ie
Nikolauszentrale scheint fast aus allen Nähten zu platzen. Es herrscht
ein unglaubliches Chaos. Schon seit Tagen staut sich Schlitten an Schlitten
in der Auffahrt zum hellerleuchteten Eingang. Rentiere schupsen sich gegenseitig
und ziehen in alle Richtungen, Geschenke fallen zwischen die Schlitten, und
die Nikoläuse
lassen alles stehen und liegen, um ihre alten Freunde zu begrüssen. Ein
ganzes langes Jahr haben sie sich nicht mehr gesehen. Überall auf der
Welt waren sie mit ihren Vorbereitungen für Weihnachten beschäftigt.
Doch nun ist es soweit, das grosse Treffen aller Nikoläuse in der Nikolauszentrale
steht bevor. Endlich kann man wieder über die neuesten Plätzchenrezepte
diskutieren und mit den gefährlichsten Nikolaus-Schlitten-Lenkmanövern
prahlen. Ein kleiner und eher schlanker Nikolaus erzählt gerade mit erhobener
Stimme von seinem grossen Abenteuer: „...und dann habe ich plötzlich
gesehen dass der Schornstein zu war. Nicht verstopft mit Russ und Asche wie
sonst immer, sondern richtig verschlossen. Ich meine zugebaut. Zum Glück
konnte ich gerade noch rechtzeitig mit Händen und Füssen bremsen.
Und wisst ihr warum der Kamin zu war? Ihr werdet’s kaum glauben. Weil
irgendein törichter Vogel sein Nest da mittenrein gebaut hat! Ein paar
Zentimeter weiter, und ich hätte mitten in den Eiern gestanden. Mit Seil
und Karabiner bin ich dann wieder rausgeklettert.“ Die umstehenden Nikoläuse
nicken zustimmend, murmeln etwas von „blödes Geflügel“ und
machen sich auf den Weg zur nächsten Geschichte.
Die wirklich wichtigen
Ereignisse des Nikolaustreffens finden jedoch im Inneren der Zentrale statt.
Tausende von geschäftigen Nikoläusen wirbeln
in den viel zu engen Gängen umher, fuchteln wild mit ihren Armen in der
Luft und suchen nach ihren Geschenklisten oder der Backstube. An allen Ecken
und Enden sind unzählige Pakete gestapelt, und nicht selten stolpert einer
der Nikoläuse darüber, weil sein dicker Bauch ihm die Sicht auf den
Boden versperrt. Zum Glück ist es hier so voll, dass es gar keinen Platz
zum Hinfallen gibt, und so schubsen und schieben sich die Nikoläuse einfach
nur dauernd hin und her. Besonders hektisch geht es vor der Tür mit der
Aufschrift „Gebietszuweisung“ zu. Die Nikoläuse entfernen
noch hastig die letzten Staubkörnchen von den frischgeputzten Stiefel
oder zupfen sich nervös am langen weissen Bart, bevor sie zögernd
eintreten. Denn hier, hinter dieser Tür, wird von den fünf ältesten
und weisesten Nikoläusen der Nikoläuse entschieden, wer wo in diesem
Jahr seine Geschenke verteilen darf: In Norwegen oder am Nil, auf dem Lande
oder in der Grossstadt, mit einer Schar von Engeln oder ganz allein. Nicht
immer ist diese Entscheidung einfach, denn Nikolaus ist nicht gleich Nikolaus,
und jeder hat so seine Stärken.
ls
Samichlaus es endlich geschafft hat, sich durch all die Nikoläuse bis
in die Nähe
der Tür zu boxen, ist es bereits sehr spät geworden. Samichlaus wirkt
jedoch sehr gelasen. Er ist einer der Nikoläuse, die schon mehr als tausend
Weihnachten miterlebt haben. Bereits als kleiner Junge durfte er an Heiligabend
mit seinem Vater durch die wunderschön geschmückten Wohnzimmer der
Menschen ziehen und ihm bei der Arbeit zusehen. Gut versteckt sass er in dem
grossen vollgestopften Jutesack, inmitten der farbig leuchtenden Geschenke,
und hoffte den ganzen Abend lang, dass vielleicht eines davon für ihn übrig
bleiben würde. Später hat er dann fleissig für sein erstes Rentier
gespart und kräftig gegessen und gewartet. Irgendwann war es soweit: Sein
weisser Bart reichte bis zur Brust, sein Bauch hatte beachtliche Formen angenommen,
sein Rentier konnte einen vollbeladenen Schlitten ganz alleine ziehen und er
wurde zum Nikolaus auf Probe ernannt. Seither ist kein Jahr vergangen, in dem
er nicht mit ganzem Herzen an Weihnachten die Kinder beschenkt hätte,
und mit der Zeit ist aus dem jungen Nikolaus auf Probe einer der erfahrensten
und beliebtesten Nikoläuse der Welt geworden. Die anderen Nikoläuse
mögen ihn aber nicht nur wegen seiner unendlichen Weisheit: Sein eigentliches
Geheimnis liegt tief im Innersten seiner Rundungen. Samichlaus besitzt nämlich
das schönste und ansteckendste Lachen auf der ganzen Welt. Wenn er sich
so richtig gehen lässt, zittert sein ganzer Körper, seine Lachfältchen
vertiefen sich zu gewaltigen Furchen, die Tränen rollen über sein
Gesicht und sein Kopf leuchtet purpurrot wie eine überreife Kirsche. Meist
dauert es nicht lange, bis sich andere Nikoläuse von seinem Lachen anstecken
lassen und in sein tiefes „Ho Ho Ho“ einstimmen. Vor sieben Jahren
hat Samichlaus so die ganze Nikolauszentrale für über eine Stunde
lahm gelegt, weil tausende von Nikoläusen auf dem Boden lagen und sich
vor Lachen die Bäuche hielten. Niemand wusste hinterher warum eigentlich
- nur dass Samichlaus angefangen hatte, darüber waren sich alle einig.
Jetzt wartet Samichlaus also geduldig auf sein Einsatzgebiet. Bis heute hatte
ihn noch kein abgelegenes Dorf und keine Milionenstadt aus der Ruhe gebracht. „Sollen
die Chefnikoläuse mir doch zuteilen, was sie wollen. Ich freu mich auf
alle Orte dieser Welt“, erklärt er gerade Schlemmerkläuschen,
seinem besten Freund. Etwas leiser fügt er noch hinzu: „Ich kann
wirklich nicht verstehen was für eine Aufregung hier herrscht, so ein
Theater um Nichts“, und schon wieder wird er von einem anderen Nikolaus
leicht angerempelt, der sich auf dem Weg zum Geschenkdepot verlaufen hat. In
das Gespräch mit Schlemmerkläuschen versunken, merkt Samichlaus gar
nicht, dass er bereits direkt vor der Türe steht. Als diese sich öffnet
wird er von hinten gedrückt und geschoben: “Vorwärts, Samichlaus,
wir wollen nicht noch länger warten!“ Samichlaus macht einen Schritt
nach vorne – PENG! – die Tür fällt ins Schloss und es
tritt Ruhe ein. Vor ihm sitzen die fünf Chefnikoläuse. Erschöpft
und mit leicht geröteten Augen lächeln sie dem Samichlaus zu. Dann
wird die Ruhe unterbrochen und der älteste Chefnikolaus ergreift das Wort: „Hallo
Samichlaus! Wir haben eine besondere Überraschung für dich: du wirst
dieses Jahr Lapasa beschenken! Normalerweise übernimmt das immer Papá Noel,
aber der hat sich in Unachtsamkeit den halben Bart abrasiert und nun hat ihn
die Ethikkomission für einsatzunfähig erklärt.“ Bevor
Samichlaus irgendwelche Fragen stellen kann, rufen die Chefnikoläuse bereits
nach Schlemmerkläuschen, der ja als Nächster vor der Tür steht,
und beachten ihn nicht mehr. Irgendwie aber scheint es Samichlaus, als würden
sich alle Chefnikoläuse heimlich ein Grinsen verkneifen. Oder ist das
nur Einbildung? Nachdenklich und ein bisschen verwirrt über das Verhalten
der Chefnikoläuse verlässt Samichlaus die Gebietszuweisung.
„Lapasa,
Lapasa“ wiederholt Samichlaus immer wieder sein Einsatzgebiet,
während er sich raus an die frische Luft kämpft, „wo mag das
nur liegen?“ Aber darüber muss er sich eigentlich keine Sorgen machen,
er hat ja seine Rentiere. Die haben ihn bis jetzt noch nie im Stich gelassen
und kennen jedes Dorf auf dieser Erde. „Am besten ist es, ich setze mich
einfach gemütlich in meinen Schlitten und warte ab. Eine alte Samichlaus-Weisheit,
die schon immer geholfen hat“, philosophiert er laut und springt gekonnt
in seinen Schlitten. Ein Blick auf die schwer beladenen Bänke sagt ihm,
dass er nichts vergessen hat. In diesem Moment überkommt ihn ein starkes
Gefühl der Neugierde, er schnalzt laut mit seiner Zunge, lässt die
Zügel locker und seine Rentiere beginnen zu ziehen. Der Schlitten setzt
sich langsam in Bewegung, wird mit der Zeit immer schneller und schneller,
und schon bald kann man ihn von der Nikolauszentrale aus nicht mehr sehen.
Man hört nur noch die tiefe Stimme von Samichlaus aus den Wolken rufen: „Lauft
meine Tiere, lauft! Wir gehen nach Lapasa!“
er Weg führt sie durch die dichtesten Wolkengebilde, über goldige Sonnenstrahlen und durch ein paar gigantische Luftlöcher. Die Rentiere ziehen kräftig an dem überfüllten Schlitten, und unter ihnen rauschen die Landschaften nur so dahin. Riesige Meere, grüne Felder, hohe Berge, und immer wieder einmal ein kleines Dorf oder eine hell erleuchtete Stadt. Als sie nach zwei Tagen endlich über Lapasa ankommen, sind die Rentiere sichtlich erschöpft. Erst nach einer Verschnaufspause auf einer grossen, weissen Wolke, während der sie heimlich ein wenig Zucker und Heu aus dem Schlitten stibietzen, versuchen die Rentiere mit kleinen Nasenstupsern den laut schnarchenden Samichlaus zu wecken. Aber es passiert nichts. Samichlaus schläft tief und fest. Da tritt plötzlich eines der Rentiere ein bisschen näher und leckt dem leblosen Nikolaus einmal quer über das ganze Gesicht. Das wirkt! Samichlaus fährt erschrocken hoch und wäre fast aus dem Schlitten gepurzelt. Nachdem er sich ein wenig geordnet hat, bemerkt er, dass sie sich nicht mehr fortbewegen. Er schaut auf die Erde hinab und sieht ein riesiges Lichtermeer. „Das also ist Lapasa. Wow, ist das gross“, denkt er, und lehnt sich noch weiter aus dem Schlitten um besser zu sehen. Freudig greift er die Zügel und ruft seinen Rentiren zu: “Auf geht´s, das schauen wir uns mal aus der Nähe an!“
e
näher
sie Lapasa kommen, desto wärmer wird es. „Komisch“, denkt
sich Samichlaus und wischt sich ein Schweisstropfen von der Stirn, „normalerweise
hat es doch in der Weihnachtszeit Schnee und die bittere übliche Kälte
fährt durch Haut und Knochen. Hier aber scheint der Sommer ausgebrochen
zu sein, und das mitten in der Nacht.“ Gebannt schaut er auf die unzähligen
einfarbigen Backsteinhäuschen, die langsam zu erkennen sind und die die
Stadt fast zu überwuchern scheinen. Sie zieren die gewaltigen Hänge
des kraterförmigen Loches. Nur am tiefsten Punkt sind ein paar Hochhäuser
mit glänzenden Fensterscheiben aufgetürmt. Die Stadt macht den Eindruck,
als biete sie keinen Ausgang und als wären die wunderschönen schneebedeckten
Bergriesen rundherum ihre Wächter.
Als Samichlaus den Schlitten noch ein Stück näher ransteuert, erkennt
er plötzlich eine dichte Menge von Menschen und ebenso vielen Hunden zwischen
den Häusern. Die Bürgersteige sind überfüllt von kleinen
Ständen, die sich aneinander reihen. Die Strassen verlaufen ohne eine
Kurve fast senkrecht die Hänge hoch und es herrscht ein schreckliches
Chaos, begleitet von einem unglaublichen Lärm. Samichlaus staunt und staunt
und lässt seinen Schlitten endlos über Lapasa gleiten. So etwas hat
er noch nie gesehen. Dabei bemerkt er nicht, dass seine Rentiere immer müder
werden und als es schon fast zu spät ist bittet ihn das stärkste
seiner Rentiere um eine baldige Landung. „Aber wo?“, fragt sich
Samichlaus, „ich muss dringend eine dunkle und ruhige Ecke finden, damit
mich die Kinder nicht sehen können.“ Noch während dieses Gedankens
passiert es. Das vorderste Rentier knickt ein und zieht die anderen mit sich
nach unten. Samichlaus kann im letzten Moment gerade noch den Schlitten auf
einen kleinen Grasstreifen lenken und bewahrt so alle vor einem Zusammenstoss
mit einem Taxi. Er muss dabei heftig auf die Bremse treten, der Schlitten dreht
sich unter ohrenbetäubendem Quietschen und die Geschenkpakete werden weit
durch die Luft gewirbelt.
Ein bisschen benommen und mit dem Schreck in den Beinen
klettert Samichlaus aus den Trümmern des Schlittens hervor und versucht seine Rentiere zu
beruhigen. Dies ist jedoch ein schwieriges Unterfangen, da er sich mitten in
einem gewaltigen Hupkonzert befindet, die Hunde bellen erbarmungslos, und die
Passanten gaffen neugierig. Ehe Samichlaus etwas zu realisieren vermag, bläst
ihm auch noch ein kopfschüttelnder Polizist mit seiner Trillerpfeife ins
Ohr. „Ruhe bewahren und erstmal abwarten“ leuchtet es in Grossbuchstaben
hinter der Stirn von Samichlaus auf, eine weitere wichtige Samichlaus-Philosophie.
Der Polizist redet ununterbrochen in einer komischen Sprache, und obwohl Samichlaus
ihn nicht versteht weiss er, dass es nichts Gutes zu bedeuten vermag. „Ich
werde diesen Menschen ein wenig aufheitern, dann spricht er vielleicht klarer
und pfeift weniger in dieses scheussliche Ding hinein. Das hat schon immer
geholfen“, denkt Samichlaus und lässt sein tiefes „Ho Ho Ho“ erklingen.
Der Polizist lässt sich davon jedoch nicht beeindrucken und zieht Samichlaus
hinter die nächste Hausecke. Er will irgend etwas, aber Samichlaus kann
ihn beim besten Willen nicht verstehen. Instinktiv sucht Samichlaus in seinen
Manteltaschen nach den Schlittenpapieren. Als er dabei zufällig eine Tafel
Schokolade herausnimmt, greift der Polizist sofort danach, lächelt freundlich
und verschwindet.
amichlaus
kehrt etwas verwirrt zurück zu seinem mitgenommenen Schlitten und zu seinen
Rentieren. Zwei davon sind gerade dabei sich zu übergeben, und ein Drittes
klagt über starke Kurzatmigkeit. „Was ist denn hier los?“ fragt
Samichlaus besorgt sein kräftigstes Rentier. Auch dieses antwortet nur
sehr schwach: “Die Höhe macht uns zu schaffen. Wir sind hier auf
4000 m.ü.m. und auf der Erde sind wir vom Sauerstoff abhängig. Nicht
wie im Himmel, wo wir den Luftischmaus haben.“ „Auch das noch“,
denkt Samichlaus und lässt sich traurig in den Haufen der übriggebliebenen
Pakete fallen. Der Rest der Geschenke ist in der Zwischenzeit spurlos verschwunden.
Laut seufzt er: „Ich will wieder nach Hause! Weihnachten in Lapasa habe
ich mir ganz anders vorgestellt!“ Am liebsten würde er jetzt dicke
klagende Tränen rollen lassen. Stattdessen sitzt er wie betäubt eine
ganze Weile regungslos zwischen seinen Geschenken und beobachtet den chaotischen
Verkehr um sich herum. Sein Blick schweift dabei durch die überfüllten
Strassen und bleibt zufällig an einem hell erleuchteten Schild hängen: “Autowerkstatt/Garage“.
Vielleicht kann ihm ja dort jemand helfen? Ganz automatisch
steuert Samichlaus auf das riesige Tor zu und klopft trotz der späten
Stunde zweimal heftig mit seinen grossen Händen dagegen. Nach einer
Weile öffnet ein verschlafender
Mann die Türen, reibt sich in den Augen und schaut Samichlaus erstaunt
an. Sofort sprudeln Samichlaus alle seine Sorgen heraus. Er erzählt vom
berühmten Papá Noel, der nur noch einen halben Bart hat, von der
unglücklichen Landung, von den verloren gegangenen Geschenken, von dem
kaputen Schlitten, von den kranken Rentieren, von dem pfeifenden Polizisten,
von der komischen Sprache hier und von seiner Angst, dass ihn die Kinder sehen
könnten. Da wird ihm bewusst, dass ihn dieser Mann wohl auch nicht verstehen
kann. Er seufzt noch einmal tief, macht eine abwinkende Geste und verabschiedet
sich dann wieder. Plötzlich hört er die Stimme des Mannes hinter
sich: „Willkommen in Lapasa, ich bin Erni!“ Samichlaus wäre
ihm am liebsten um den Hals gefallen, so gut tat es, seine eigene Sprache sprechen
zu hören.
Erni stellt sich als sehr freundlicher Werkstatt-Besitzer
heraus. Er erfasst die Lage von Samichlaus sehr schnell und hilft ihm gleich
die Trümmer
seines Schlittens in die Garage zu tragen. Dort verspricht er ihm fest, dass
er in drei Wochen mit dem Schlitten wieder nach Hause fliegen könne. Er
sehe kein Problem den Schlitten wieder auf Vordermann zu bringen. Auch die
Rentiere dürfen sich in einer Ecke der Garage ausruhen. Es dauert nicht
lange, da hat Erni auch schon ein bisschen Stroh hingelegt und er tränkt
die Rentiere mit einem Coca-Tee. Zu Samichlaus meint er: „Sie werden
sich schnell an die Höhe gewöhnen, und du schläfst jetzt erstmal
eine Runde. Keine Sorge, hier hinter diesen Mauern bemerkt dich niemand, und
morgen sieht dann alles wieder besser aus.“ Das lässt sich Samichlaus
nicht zweimal sagen, er bettet sich zwischen seine Tiere, und schon verfällt
er in einen tiefen Schlaf.
m
nächsten
Morgen wird er durch Werkzeuglärm und Menschenstimmen geweckt. Seine Rentiere
schlafen noch immer, doch die Sonne brennt bereits senkrecht herunter. Plötzlich
durchfährt Samichlaus ein Riesenschreck: die Rentiere krank, der Schlitten
kaput, und fast alle Geschenke sind weg. Wie soll da Weihnachten funktionieren?
Ein nettes „Guten Morgen“ von Erni reisst ihn aus seinen Gedanken. „Was
macht ein Nikolaus ohne seinen Schlitten, selber fliegen?“, versucht
er Samichlaus durch Sticheln ein bisschen aufzuheitern, doch er bekommt nur
ein eisernes Schweigen zur Antwort. Eine Stunde später durchfährt
die Stille plötzlich ein tiefes Jauchzen von Samichlaus: „Wow, das
ist es, ich lerne fliegen. Den Chefnikoläusen wird das Schmunzeln schon
noch vergehen, wenn ich ihnen ohne Schlitten um die Ohren sause! Ho Ho Ho!“ „Danke
Erni“ schreit er durch die Garage, „ich komme im Dunkeln wieder
zurück.“ Schnell sammelt er noch die leeren Jutensäcke zusammen,
reist die Bänder von den Paketen, nimmt einen gepolsterten Sitz und das
Werkzeug aus dem Schlitten, und schon ist Samichlaus spurlos verschwunden.
Geschickt springt Samichlaus von Versteck zu Versteck
bis er in den Bergen ankommt. Hier ist niemand zu sehen, und er beginnt mit
seiner Arbeit. Er schneidet und knotet und reisst und näht, bis er schliesslich am späten Nachmittag
fertig ist. Das Ganze hat er einmal in einem Abenteuerroman von MacPapaGeiver
gelesen. Stolz betrachtet Samichlaus sein Werk und reibt sich dabei begeistert
die Hände. „So, jetzt muss ich nur noch auf die Spitze des Berges
klettern und der Rest wird sich von alleine ergeben“ sagt er zu sich
und zieht los.
Oben angekommen, ist Samichlaus völlig ausser Puste. Langsam kann er
die Leistung seiner Rentiere nachvollziehen. Trotz seiner Atemlosigkeit bereitet
er tapfer alles nach seinem besten Wissen vor, schaut kurz mit einem bittenden
Blick zum Himmel empor und läuft dann, bevor seine Angst die Oberhand
erlangt, los. Jedoch schon beim zweiten Schritt verfängt sich sein langer
weisser Bart in den Steuergriffen und eines der Bänder reisst, weil er
mit seinen klobigen Stifeln darauf tritt. Überfordert von der Lage schaut
er nicht auf den Boden, stolpert über einen Stein und stürzt. „So
ein Seich“, flucht Samichlaus und versucht sich wieder aufzurapeln. Es
schmerzt ihm alles, aber er will nicht aufgeben. „Nie hätte ich
gedacht, dass das Gleitschirm-Fliegen so anstrengend ist“, klagt er vor
sich hin und denkt dabei: „Hoffentlich verliere ich nicht allzu viel
Gewicht beim Üben, es gibt schliesslich nichts Schlimmeres als einen schlanken
Nikolaus.“ Schon läuft er ein zweites Mal los. Dieses Mal mit mehr
Vorsicht und einem Knoten im Bart. Drei, vier, fünf Schritte und Samichlaus
hebt ab. Der Wind trägt ihn gleich nach oben, und er steuert nach rechts
und links, wie es ihm gerade passt. „Ho Ho Ho, ich werde der erste fliegende
Nikolaus auf Erden sein“, ruft er in die Wolken hinein, „Das ist
ja so was von oberzuckergussstark!“ Lange Minuten verweilt er in diesem
Glückszustand, dann aber sieht er die Landung näher kommen. Darüber
hatte er noch nicht nachgedacht und sein Herz beginnt zu hämmern. Er kann
sich auch mit grösster Anstrengung nicht mehr an diese Stelle im Buch
errinnern. Rasend schnell kommt nun der Boden auf Samichlaus zu. „Wenn
ich jetzt nichts unternehme“, durchfährt es ihn, „werde ich
auf den Boden knallen wie ein überreifer Apfel, der vom Baum fällt!“ Er
nimmt ganz automatisch eine Boden-Abwehrhaltung ein und irgendwie bremst ihn
das ein bisschen. Pum! Eine Riesen-Staubwolke entsteht, in der sich Samichlaus
bestimmt fünfmal überschlägt, bis er endlich zur Ruhe kommt.
Zuerst spuckt er die Erde aus seinem Mund und überprüft seinen Körper: „Noch
alles dran!“ freut er sich und schaut sich dabei um. Mitten in einem
Kartoffelacker ist er gelandet. Zum Glück, sonst wäre es wohl noch
härter geworden. „Schnell weg“, sagt er sich, „ich möchte
ja nicht gesehen werden, schon gar nicht von einem wütenden Bauern.“ Samichlaus
klopft sich den Dreck vom Mantel, verwischt noch schnell seine Spuren und schon
ist er nicht mehr zu sehen, so als wäre er nie da gewesen.
och vor der Dämmerung schleicht sich Samichlaus nun jeden Tag aus der Garage und hinauf in die Berge. Erst nachdem er sich dreimal versichert hat, dass keine Menschseele in der Nähe ist, beginnt er mit seinem Gleitschirm zu fliegen und zu fliegen. Häufig gelingt es ihm, für mehrere Stunden in der Luft zu verweilen; manchmal aber startet er und muss sofort wieder landen, weil es keinen Wind hat oder trotz aller Vorsicht ein Mensch auftaucht. Im Grossen und Ganzen aber macht er täglich Fortschritte und wenn er sich jeweils im Dunkeln nach Hause schleppt wirkt er müde, aber sehr zufrieden. Klar wollen alle in der Garage wissen, was er den ganzen Tag über so treibt. Das aber verrät Samichlaus niemanden, noch nicht einmal seinen treuen Rentieren, die mit ihm schon so manches durchgemacht haben. Er sagt nur stets: „Ein Nikolaus ist nur ein Nikolaus, wenn er seine süssen Geheimnisse für sich behalten kann!“ Trotz seiner Müdigkeit bäckt Samichlaus noch jede Nacht tausende von Weihnachtsplätzchen in Ernies Küche, um die verlorenen Geschenke zu ersetzen. So kommt es, dass es in der Garage statt nach Benzin und Lack nach Zimtsternen und Spritzgebäck duftet.
achdem
Samichlaus nun seit mehr als zwei Wochen unermüdlich fliegen gelernt und
Weihnachtskekse gebacken hat, ist es endlich soweit: Heiligabend in Lapasa!
Er kann es kaum erwarten. Vor lauter Vorfreude bringt er diese Nacht kein Auge
zu, und er überprüft den Gleitschirm immer wieder von Neuem, zählt
die Pakete nach und vergewissert sich, dass alles in bester Ordnung ist. Am
nächsten Morgen belädt Samichlaus seine Rentiere mit den Geschenksäcken
und macht sich auf den Weg zum Potiki, dem höchsten Berg bei Lapasa. Immer
wieder blickt er auf die ehemals fremde Stadt hinunter, die ihm in den letzten
Wochen so ans Herz gewachsen ist. Noch immer hat er seine Mühe mit der
ungewohnten Hitze an Weihnachten, doch an die Höhe hat er sich langsam
gewöhnt und das ewige Gehupe scheint er gar nicht mehr zu hören.
Und während er die Gedanken über die letzten Tage schweifen lässt,
bricht langsam die Dunkelheit herein. Da und dort werden die ersten Kerzen
angezündet und Samichlaus spürt, wie sich die Temperatur nochmals
erhöht. „Falls ich nächstes Jahr wieder nach Lapasa kommen
darf, werd ich mir davor den Bart stufen lassen, die Stiefel durchlöchern
und die Hosen abschneiden, das ist ja ein richtiger Backofen hier!“ versichert
er sich selbst.
Lapasa sieht nun aus wie im Märchen und ihr warmer Lichtbogen
strahlt weit über die umliegenden Berge hinaus. Der Duft von Lama-Braten
und warmen Speisen kriecht langsam in die Nase von Samichlaus und ihm läuft
das Wasser im Munde zusammen. Immer wieder hört er Kinderstimmen in allen
Varianten Weihnachtslieder singen und fröhliches Lachen dringt bis zu
ihm empor. Zum ersten Mal seit seiner Schlitten-Landung in Lapasa verspürt
er richtige Weihnachtsstimmung. Dreimal atmet er tief durch und geniesst diese
einzigartige Zeit, die ihn jedesmal von Neuem berührt und die sein ganzes
Leben bedeutet. „Nun
ist es soweit, mein Auftritt ist da“ brüstet sich Samichlaus und überprüft
nochmals seinen Startplatz. Dann breitet er sein Gleitschirm aus, wirft die
vollen Geschenksäcke auf seine Schulter und läuft mit einem lauten „Ho
Ho Ho“ so schnell er kann los. Mit grossem Geschick steuert er von Haus
zu Haus und wirft gekonnt die Geschenke in die Gärten und Schornsteine,
welche bei dieser Hitze sicherlich ausser Betrieb sind. Immer wieder ruft Samichlaus
fröhlich aus dem Nichts: „Gruss vom Weihnachtsmann!“ und fliegt
davon, bevor ihn die Kinder mit ihren strahlenden Augen erspähen können.
Wenn er zu tief absinkt und ab und zu fast ein Dach streift, sucht er sich
ein paar leuchtende Kerzen und nutzt deren warme Luft als Auftrieb. So bleibt
er endlos lange in der Luft und kann bei jedem einzelnen Kind vorbeischauen.
ls
er schon fast alle Geschenke verteilt hat, entdeckt er plötzlich im Zentrum
der Stadt ein paar kleine Gestalten auf der Strasse. „Wer mag das nur
sein?“ fragt sich Samichlaus und überprüft seine Liste mit
allen Kindern von Lapasa. „Hier finde ich merkwürdigerweise Nichts
von Kindern, die ich an Weihnachten auf der Strasse antreffen sollte“,
murmelt Samichlaus verwirrt und bemerkt zusätzlich: „Eigentlich
hätte ich heute jedes Kind in einem gemütlichen Wohnzimmer erwartet,
wie das sonst immer der Fall gewesen ist. Weihnachten, da sind doch alle bei
ihren Liebsten, feiern und sind fröhlich.“ Vedutzt steuert er seinen
Gleitschirm ein bisschen näher und stellt fest, dass diese Kinder aber überhaupt
nicht fröhlich wirken, dass die meisten von ihnen auf einem Schuhputzkasten
sitzen, nur wenige schäbige Kleider tragen und Hunger haben. Schnell lässt
er sich wieder in die Höhe treiben. Mit diesen Kindern hatte er überhaupt
nicht gerechnet. Traurig fragt sich der Samichlaus: „Was mache ich nun?
Ich habe ja fast nichts mehr in meinem grossen Geschenkesack!“ Verzweifelt
macht er einige Kurven am Himmel um nachzudenken. Schliesslich hat er eine
gute Idee. Schnell fliegt er auf den Gipfel des Potoki. Er belädt seine
Säcke mit Schnee und fliegt zurück zu den Strassenkindern. Dort lässt
er es zuerst ganz leicht rieseln, dann packt Samichlaus immer kräftiger
zu, und schliesslich leert er ganz Säcke von Schnee über den Kindern
aus. Die Kinder verstehen zuerst überhaupt nicht was ihnen geschieht,
bis ein kleiner Junge ruft: „Das ist doch Schnee, ich kenne das von den
Bergen! Man, es schneit, und das bei 27 Grad!“ Alle Kinder springen auf
und berühren vorsichtig die weisse Masse. Es dauert nicht lange, da stopfen
sie sich einander den kalten Schnee in die Schuhe und die Jacken, jubeln und
schreien. Mit der Zeit gehen die Türen der benachbarten Häuser auf
und ganze Scharen von Menschen strömen auf den Platz. Schon bald tummeln
sich auch die dazugestossenen Kinder im Schnee, und einige bauen sogar einen
riesigen Schneemann.
Später, als es schon lange nicht mehr schneit, ist
der Platz leer. Die Kinder, die vorhin noch traurig auf ihren Schuhputzkästen
sassen, sind spontan in die gemütlichen Wohnzimmer eingeladen worden und
verschlingen nun grosse Portionen von den leckersten Köstlichkeiten. Für
sie ist ein Wunder geschehen, und zum ersten Mal in ihrem Leben sind sie an
Weihnachten so richtig glücklich. Und nicht nur sie freuen sich über
diese schöne
Weihnacht. Draussen, ganz weit über der Stadt, sieht man einen verrückten
alten Nikolaus am Himmel schweben, und jedes mal wenn er von einer Kerze wieder
Auftrieb erhält, hört man ein herzhaftes und glückliches