Earl Grey, 15.2.04
Mein Name ist Grey, Earl Grey |
Hier eine Aufnahme meiner besten Seite. Ich möchte zu Beginn gleich sympathisch wirken. Das Photo hat mich eine ½ Stunde posieren gekostet, bis mich Benita irgendwie vorteilhaft digitalisieren konnte. Das war ganz schön anstrengend. Das Wedeln mit dem Schwanz ist wohl eine der grösten Künste eines Photomodels: zu hoch, zu tief, zu schnell, zu verkrampft etc.. Nichts konnte ich ihr recht machen. Doch alles bereits vergangen und vergessen. Bin ich nicht süss? Ich sehe vielleicht wie ein Esel aus, bin ich aber nicht. Grey ist mein Name, Earl Grey, und ich bin der Schutzengel aus Benitas Traumwelt. Hmm, lasst mich das in wenigen Worten erklären: Wenn ein Mensch einen grossen Traum hat, der ihm unendlich wichtig ist, und er träumt Tag und Nacht davon, dann werden wir Schutzengel gerufen. Unsere Aufgabe ist es nun, diesen Traum zu beschützen. Er darf nie ausgeträumt werden. Also haften wir uns für Schritt und Tritt an diesen Menschen und errinnern ihn immer wieder an das traumhaft Schöne im Leben. Jamira und ich sind so bei Mark und Benita gelandet, und da Benita heute keine Zeit hat - sie begleitet Mak zu einem Gespräch an der Uni in Vancouver - schreibe ich Euch einfach, was momentan Sache ist. Ach ja, falls Ihr einmal einen Traum haben solltet, dann träumt so fest ihr könnt... wer weiss, vielleicht erscheint dann auch bei Euch ein Schutzengel. So, nun aber zu den Tagen in Toronto.
Man kann über Vieles endlos und ewig diskutieren. Benita und Mark sind sich in diesem Fall noch lange nicht einig. Seid zwei Tagen drücken sie sich um die Entscheidung, ob sie mit dem Zug oder mit dem Flugzeug nach Vancouver reisen sollen. Alle Canadier schwärmen von der Fahrt quer duch das zweitgrösste Land der Welt, aber niemand hat sie wirklich unternommen. Zudem ist sie etwas teurer als der Flug. Das liebe Geld hat jedoch selten ein Entscheidungsgrund im Leben von Benita und Mark sein dürfen. Im Zeichen lesen sind sie bis heute ja keine Talente. Mir ist aber schon lange klar, dass sie den Zug nehmen werden, denn sie sehnen sich so sehr nach etwas Natur. Aber es sind nicht immer alle so schnell wie ich. Wäre ja auch langweilig... Wie dem auch sei, am Donnerstag morgen finden sich die zwei beim Einkaufen wieder. Sie wollen in letzter Sekunde noch ein paar Früchte und Brot besorgen. Das Essen im Zug wird wohl kaum das Beste sein. Aber besonders die Futtermenge scheint ihnen - wie so oft - viel mehr Sorgen zu bereiten. Benita wird immer gleich unausstehlich, wenn sie nicht genug zu Essen bekommt, sie leidet schnell mal unter Unterzuckerung und die ganze Welt ist dann einfach furchtbar. Ja und Mark, der braucht auch seine unsichtbaren Kalorien, wo auch immer die hingehen. Auf das Schlimmste gefasst, schreiten die Beiden Richtung Gleis 9, wo ihnen dann ihre Abteile zugewiesen werden. Pech, jetzt hat dieses frisch verliebte Pärchen dch getrennte Liegewagen erwischt. Welcher Idot kann denn so etwas buchen? Zum Glück zeigt der Schaffner Verständnis und diskutiert das Problem (das gar kein Problem ist, da es keine andere Passagiere in dieser Preisklasse gibt) mit seiner Kollegin, und prompt dürfen die beiden nebeneinander sitzen. Ein Schutzengel hat so manche Funktionen...
Der gigantische Blick aus dem Domwagen |
Jetzt wird zuerst mal der Zug durchforscht. Schwer beeindruckt von der näheren Umgebung fragt sich Benita zwar, was sie mit dem Schmicktisch anfangen soll, aber die Dusche scheint besser zu sein als die am Dillileeweg. Neugierig durchdringen sie weiter den hinteren Teil des Zugs, wo bereits die ersten Muffins, Kaffee und Tee auf sie warten. Mit vollem Mund steigen die beiden die Treppe hoch zum Domwagen. Das überbietet nun alles an Luxus, was sie sich je zumuten wollten. Das Dach und die Seitenwände sind verglast, und man kann in einem superweichen Sessel mit Tischchen die Aussenwelt endlos geniessen. Mark ist noch nicht ganz im Polster versunken, schon wird der erste Jampanier (oder heisst das Champagner?) gebracht. Oder soll es lieber ein Häppchen mit Crevetten, Lachs und Salami sein? Mal schauen, wie wohl sich Benita und Mark in den nächsten Tagen fühlen werden. Am meisten befürchte ich, dass ihnen die Bewegung fehlen wird.
Das Zugfahren hat soviel Gutes an sich. Die eiserne Schlange windet sich durch die unberührte Natur, und man muss dabei keinen einzelnen Gedanken verschwenden, in welche Richtung es wohl nach der nächsten Kurve gehen soll. Der Dampf der Lokomotive bringt uns direkt zum Ziel. Beim Einsteigen hängt man auf eine Art die Alltagsverantwortung an den Nagel und man kann sich zurücklehnen und nur geniessen. Nirgends lässt es sich so gut über Dinge nachdenken, wie beim monotonen Rattern des Zuges. Die Wange etwas an das Fenster gedrückt, versinkt man in die eigene Gedankenwelt, aber nur so lange bis man wieder von etwas Bewundernswertem auf der anderen Seite des Glases abgelenkt wird. Mark und Benita gelingt es hier zum ersten Mal seit ihrer Abreise aus der Schweiz völlig loszulassen und abzuschalten. Die märchenhaften Winterlandschaften sind dabei eine willkommene Hilfe. Zuerst sind es die verschneiten Riesentannen und die zugefrorenen Seen, die sie faszinieren. Nach einem Tag wird dieser Blick auf einen Schlag abgelöst von einer unendlich grossen weissen Ebene, deren Weite spontan zum Träumen einläd. Das Schönste jedoch kommt am Ende. Am letzten Tag bäumen sich die Rocky Mountains stolz vor ihnen auf. Die Aussicht ist spektakulär, und man hört Benita und Mark bei diesen Bergen abwechselnd einen sehnsüchtigen Seufzer von sich geben. Natürlich sehen sie auch ein paar Tiere. Neben ganzen Rehfamilien erspähen ihre Augen sogar einen wilden Wolf. Leider können sie Euch keinen Beweis dafür liefern, die Kamera war wohl zu langsam. Oder hielt der Wolf vielleicht seinen Schwanz zu weit nach rechts, Benita?
Deer in Jasper |
Endlich, die Rocky Mountains |
Die Höhepunkte der Fahrt sind die Aufenthalte an den Bahnhöfen, wo man sich die Füsse ein bisschen vertreten kann. Meistens aber hält man es kaum die ganze Zeit über draussen aus. Der Auslauf beschränkt sich fast immer auf die Länge des Zuges, und schon ist man ein Eiszapfen. Raucher versuchen krampfhaft eine Zigarette lang durchzuhalten. Da nützen auch die drei Fliessschichten, die Outdoor-Jacke und alles was im Rucksack von Mark zu finden ist, nichts. Bei -40º C, ohne den Wind einzurechnen, braucht es sogar ein Tuch vor den Mund. Die eisige Kälte durchdringt alles, bohrt sich bis in die Bronchien, und schmerzt brutal. Einfach cool, da ist die Schweiz eine reine Sauna gegen.
Unser Zug |
Füsse vertreten |
Schneeskulpturen in Winnipeg, bei -40º C |
Etwas, was ich noch dringend erwähnen muss, ist das Schlaraffenland. Dreimal am Tag pilgern Benita und Mark dorthin, um sich die Bäuche vollzuschlagen. Zum Frühstück kann man zwischen Pancake, Eiern (gerührt, gekocht, gebraten), Würsten, Speck, Müsli, Toast, Joghurt, Muffin... auswählen. Aber das hält nicht lange hin, und die Beiden sind froh, dass sie am Mittag und am Abend nochmals jeweils ein vier-gängiges Menu geniessen dürfen. Sie haben wohl noch selten so gut gespeist, was ihre bereits gute Laune noch weiter verbessert. So ist es auch kein Wunder, dass sie gerne als Tischnachbarn gesehen werden. Mit Freude und Elan erzählen sie aus ihrem Leben und von ihren Plänen, wobei das mit den Plänen noch nicht handfester geworden ist. Ihre Gesprächspartner, fast immer grauhaarig und mit einigen Fältchen im Gesicht, lassen sich oft anstecken und sie sind nicht selten der lauteste und letzte Tisch im Schlarafenland. Manche Bekanntschaften gehen ihnen lange nicht aus dem Kopf, zum Beispiel die herzlichen, hyperaktiven und absolut humorvollen Grosseltern, die in Sünde leben, weil sie aus Erbschaftsgründen nicht mehr heiraten wollen. Beide waren schon zweimal verheiratet und bringen eine grosse Familie mit sich, was das vererben schon so genug schwierig macht. Oder Chris (ca. 50 Jahre alt), der Outdoor-Mensch, der der Natur verfallen ist und letztes Jahr zum ersten Mal mit seiner Freundin an einem Rolling Stones Konzert war. Leider hat ihm seine Mutter die Hanf-Pillen, die schon länger in ihrer Apotheke liegen, nicht vermachen wollen...
Vornehmer geht's kaum |
Unsere "Pseudo-Grosseltern" |
Ja, ja, die zwei lassen sich ganz schön verwöhnen. Kein Finger wird
gekrümmt. Wenn sie wenigstens ihr Chaos selbst aufräumen würden.
Aber auch da ist der Schaffner schneller und macht mal eben das Bett und ordnet
die Kleider und den immer grösser werdenden Haufen Kleinkram, ohne sich
sehen zu lassen. Nur ein Stück Schokolade und eine Flasche Wasser verrät,
dass er es gewesen ist. Ein letztes Mal schauen die Beiden eng umschlungen in
die klare Nacht hinaus und schlafen dann zufrieden im Wiegen des Zugs ein. Morgen
früh werden sie in Vancouver ankommen, ausgeruht und sehr glücklich.
Das einzige, was ein bisschen traurig zu sein scheint, ist die noch unberührte
Tasche mit den ganzen Esswaren für die Notzustände im Zug.
Vancouver wartet... |