Reich sein ist nicht lustig, wenn es Armut gibt

Benita und Mark, 6.10.2004

Waschtag!

Ich möchte Euch heute ein bisschen nach Bolivien entführen und Euch das andere Gesicht unseres Traumlebens hier in Südamerika zeigen: Eine Reise via Internet direkt in dieses wunderschöne Land, das uns schon seit August fest in seinen Armen hält. Damit Ihr von Bolivien eine Ahnung bekommt, müsst ihr erst Eure bestehenden Vorstellungen über Board werfen. Hier ist einfach alles anders als in der Schweiz. Die Lehrer werden Professoren genannt, ohne dass sie jemals an der Uni waren. Autos sind von einem Hupkonzert umhüllt, und an jeder Ampel steht zusätzlich ein trillerpfeifender Polizist, dessen Funktion wir bis heute noch nicht herausgefunden haben. Die bunten Dorfplätze kann man einfach nicht mit der eintönig-schwarzen Zürcher Bahnhofstrasse vergleichen, und auf über 3000 m bleibt einem hier oft die Luft weg, im wahrsten Sinne des Wortes. Kurz gesagt, hier ist es chaotisch, faszinierend, laut, primitiv, romantisch und wunderschön. Der grösste Unterschied besteht jedoch darin, dass alles was in der Schweiz selbstverständlich ist, hier kaum existiert.

Bolivien ist das Land mit der wechselvollsten Regierungsgeschichte Lateinamerikas, vielleicht sogar der ganzen Welt. Seit der Unabhängigkeit von Spanien 1825 gab es mehr als 160 Putsche und Putschversuche! Klar, dass dabei eine stabile Wirtschaft auf der Strecke bleibt. Zusätzlich hat Bolivien mehrere erfolglose Kriege mit seinen Nachbarn geführt, und dabei fast die Hälfte seines Territoriums verloren. Besonders schlimm war der Verlust der Küstengebiete 1884 an Chile, was seitdem den Export von Bodenschätzen sehr erschwert. Ab 1985 haben sich demokratisch gewählte Regierungen ein bisschen etabliert und eine Welle von Reformen im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich ausgelöst. Es kommt hier immer wieder zu heftigen Unruhen, Demonstrationen und Blockaden sind an der Tagesordnung. Ein Grund dafür ist der Kampf Boliviens (und der USA) gegen den Kokaanbau. Einerseits werden illegale Kokaanbauflächen in grossem Stil vernichtet, andererseits gibt es kaum vernünftige alternative Einkommensquellen für die Landbevölkerung. Deswegen wächst die Kluft zwischen Arm und Reich immer mehr, und Bolivien ist nach Haiti das ärmste Land Lateinamerikas. Zahlen und Fakten sprechen neben den Bildern der Strasse am deutlichsten:

Kindersterblichkeit unter 5 Jahren
6,6 %
Lebenserwartung Männer
61 Jahre
Lebenserwartung Frauen
64 Jahre
Analphabetismus Männer
6,94 %
Analphabetismus Frauen
19,35 %
Mindestlohn
60 US$
Arbeitslosigkeit
8,5 %
Unterbeschäftigung
32,75 %
Armut
64,0 %
Extreme Armut
37,0 %
Quelle: Instituto Nacional de Estadisticas, La Paz Bolivia, 2000-2004

Ein Mindestlohn von 60US$ pro Monat ist in Bolivien mehr als es auf den ersten Blick scheint. Das Leben ist hier so preiswert – 30 Orangen kosten etwa 1 Franken - dass man damit schon durchkommen kann. Und in der Tat, es gibt wenig Menschen die wirklich hungern müssen, sie leben jedoch unter einfachsten Bedingungen. Dass die Arbeitslosigkeit bei „nur“ 8,5% ist, liegt daran dass eigentlich jeder Bolivianer einen kleinen, mobilen Strassen-Stand besitzt und irgendetwas verkauft; kopierte CDs, Bananen, Artesania-Andenken, alte Autoreifen, Flaschendeckel etc. Einfach etwas, was sie am Leben erhält.

Es ist schwer für uns, bei einer solch aufdringlichen Armut wegzuschauen und einfach die Ferien zu geniessen. Dieser bittere Beigeschmack des Reichseins ist hier in Südamerika immer präsent und kommt vor allem dann zur Geltung, wenn Dich beim Eis essen zwei hungernde Kinderaugen neidisch beobachten, oder wenn du an einer einsamen Landstrasse eine 70jährigen Campesina siehst, die um ihren Lebensunterhalt bettelt. Diese Stiche in unseren Herzen kumulierten sich immer mehr, bis uns klar wurde, dass wir überhaupt nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen. Jetzt sind wir soviel gereist und sind immer noch völlige Anfänger!

Spontan kehrten wir zurück nach La Paz und deponierten unseren Piolino auf ungewisse Zeit an einem ruhigen Örtchen. Dann machten wir uns zur Aufgabe, etwas mehr über die Politik, die Wirtschaft, das Gesundheits- und das Bildungswesen des Landes zu erfahren. Wir wollten herausfinden, wo die Hauptprobleme liegen und wie man die Armut hier bekämpfen kann. Also steckten wir die Nasen in Botschaften, Handelskammern, Hilfsprojekte, Ministerien etc., und führten unzählige Gespräche mit den verschiedesten Leuten hier. Plötzlich hatten wir einen Terminkalender, und der Wecker musste seit langem mal wieder gestellt werden. Mark durchlöcherte gnadenlos alles, was Kravatte und Hemd trug, bis ihnen einfach nichts mehr einfiel. Ich versuchte dabei fleissig Notitzen zu machen, damit wir in unseren Trekking-Kleidern wenigstens ein bisschen professionell auftraten. Wir waren ein richtig schlaues Team! In kürzester Zeit haben wir uns ein gutes und breites Netzwerk an Informanten aufgebaut, hunderte von Blättern und Schreiben gesammelt und sind schliesslich auch ein bisschen schlauer geworden. Es gibt natürlich unzählige Probleme in Bolivien, in unseren Augen sind jedoch die fehlende Arbeit und die Korruption die grössten zwei in der Bekämpfung der alltäglichen Armut in Bolivien.

Und was nun? Dieses Wissen allein nützt uns noch nicht viel in der Begegnung mit den schmutzigen Gesichtern der Strassenkindern. Earl Grey war es, der irgendwann leise eine kleine, feine Bemerkung in den Raum stellte: „Wenn ihr schon soviel Energie, Interesse und Wissen mitbringt, könntet ihr ja auch etwas gegen die Armut unternehmen. Man soll nicht nur über grosse Dinge philosophieren, sondern auch kleine Dinge verändern, oder wollt ihr die Leute hier im Stich lassen?“ Jamira war natürlich gleich hellauf begeistert von der Idee, hier in La Paz irgendein Hilfsprojekt auf die Beine zu stellen. Dann könnte sie nämlich ihre Schutzengel-Funktion auf das Projekt ausweiten und noch ein bisschen länger bei uns bleiben... Aber was könnte von einem Informatiker und einer Krankenschwester gegen die Armut unternommen werden? Vielleicht doch etwas Sinnvolles. Die Räder drehen sich auf Hochtouren und es schaut momentan gar nicht so schlecht aus. Drückt uns die Daumen! Mehr dazu aber erst, wenn alles Hand und Fuss hat.

 

 

Alles Liebe,

Benita und Mark

 

 

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